Linus in der Schule – Zwischen Rätseln und Ruhe

Linus in der Schule
Eine Geschichte aus kindlicher Autismus-Sicht
Ich heiße Linus. Ich bin acht. Und ich bin wieder in der Schule. Die Schule ist wie ein Labyrinth, nur dass die Wände sprechen und lachen und sich manchmal plötzlich bewegen.
Jeden Morgen nehme ich denselben Weg: fünf Schritte vom Tor zur Bank, zwölf Schritte zum Eingang, drei Treppenstufen – dann links, dann rechts. Ich kenne den Weg wie meine Dinosaurier-Reihe. Wenn jemand in meiner Klasse schon auf der Treppe steht, gehe ich langsamer. Ich mag es nicht, wenn Menschen zu nah sind.
Im Klassenzimmer ist es laut. Nicht laut wie ein Feuerwerk, sondern laut wie hundert kleine Geräusche, die sich überlagern. Das Klicken von Stiften. Das Kichern hinter mir. Das Knarzen der Tafel. Die Stimme der Lehrerin. Mein Kopf versucht, alles gleichzeitig zu hören – das ist wie ein Radio, bei dem alle Sender gleichzeitig laufen.
Ich setze mich auf meinen Platz. Der ist vorne, rechts am Fenster. Ich habe gefragt, ob ich dort sitzen darf, weil ich dort weniger Leute sehe. Nur das Licht ist dort manchmal zu hell. Ich habe eine Sonnenbrille im Ranzen. Ich nehme sie heimlich, wenn es zu viel wird.
Heute sollen wir Gruppenarbeit machen. Gruppenarbeit ist wie ein Puzzle, bei dem die Teile reden. Ich weiß nie, wann ich dran bin, was ich sagen soll, und ob ich zu viel oder zu wenig rede. Die anderen sagen manchmal: „Was redest du da, Linus?“ Dann sage ich lieber nichts mehr.
Die Lehrerin fragt mich: „Magst du erklären, wie du die Aufgabe gelöst hast?“ Ich habe sie gelöst. Aber ich weiß nicht, wie ich das jetzt sagen soll. Ich spüre, dass alle mich anschauen. Das fühlt sich an wie zehn Scheinwerfer auf meiner Haut. Ich schaue auf meine Hände. Die sind ruhig. Ich sage nur: „Ich hab’s gemacht.“ Dann nickt sie. Das ist gut.
Manchmal ziehe ich meine Kapuze über den Kopf. Nicht, weil ich schlafen will. Sondern weil ich kurz allein sein muss. Das ist meine Pause – meine kleine Höhle. Ich mache sie mir selbst, wenn es keine Höhle im Klassenzimmer gibt.
In der Pause gehe ich am liebsten zum Zaun hinter dem Schulgarten. Dort ist ein kleiner Baum. Ich nenne ihn „der leise Baum“. Er fragt nichts, er bewertet nichts. Manchmal erzähle ich ihm von Dinosauriern oder dass ich den Mathetest schon im Kopf gerechnet hatte, bevor die Lehrerin fertig war mit Erklären.
Tom hat heute wieder gesagt: „Du bist komisch, Linus.“ Ich habe gesagt: „Du bist laut.“ Dann war er still. Ich glaube, er hat es nicht verstanden. Aber das ist okay. Ich verstehe auch nicht immer, was er meint.
Am Nachmittag sagt meine Mama: „Wie war dein Tag?“ Ich sage: „Viele Geräusche, ein leiser Baum, und ich habe gerechnet wie ein Blitz.“ Sie lächelt. Sie weiß, das heißt: Ich hab’s geschafft.
Ich bin Linus. Und Schule ist manchmal wie ein Rätsel. Aber ich bin gut im Rätsellösen. Auf meine Art.